Erwin Stein

Prof. Dr. jur. Erwin Stein hat die Stiftung 1991 errichtet.

Portrait Erwin Stein

Die wichtigsten Daten seines Lebens seien stichwortartig genannt: 1903 in Grünberg (Oberhessen) als Sohn eines Eisenbahningenieurs geboren; humanistisches Gymnasium in Frankfurt am Main; Studium der Rechtswissenschaft an den Universitäten Heidelberg, Frankfurt am Main und Gießen; Abschluss der juristischen Ausbildung mit beiden Staatsprüfungen und mit der Promotion; bis 1933 Staatsanwalt und Richter an verschiedenen hessischen Gerichten; im Juli 1933 auf eigenen Wunsch aus dem Staatsdienst entlassen; Rechtsanwalt in Offenbach; von 1943 bis Kriegsende einfacher Soldat; nach dem Krieg zunächst Rechtsanwalt und Notar in Offenbach, politisch in der CDU aktiv; Mitglied der Verfassungsberatenden Landesversammlung für Groß-Hessen; von 1946 bis 1951 Abgeordneter des Hessischen Landtags, von 1947 bis 1951 hessischer Kultusminister und, ab 1949, zugleich hessischer Justizminister.

Von 1951 bis 1971 war Erwin Stein Richter des Bundesverfassungsgerichts, dessen Erstem Senat er angehörte. Er zählt mithin zur Gründergeneration des Bundesverfassungsgerichts. Neben anderen Entscheidungen hat er als Berichterstatter seines Senats drei wichtige Urteile vorbereitet: das zum KPD-Verbot, das zum „Mephisto“-Roman von Klaus Mann und die für die Entwicklung des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik wegweisende „Rumpelkammer-Entscheidung“.

Zusammen mit dem früheren hessischen Ministerpräsidenten Georg August Zinn hat Erwin Stein den bedeutenden und bisher einzigen Kommentar zur Hessischen Verfassung, einen der ersten zu einer Landesverfassung überhaupt, geschrieben und als Herausgeber weitergeführt. Er hat wegweisende juristische Abhandlungen, vor allem zum Schulrecht und zum Staatskirchenrecht, verfasst, hat sich intensiv mit Fragen der Philosophie und der Kunst beschäftigt, war über viele Jahre Vorsitzender der Leopold-Ziegler-Stiftung und Präsident der Humboldt-Gesellschaft. Von 1947 bis 1953 war er Mitglied der Synode der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, später, als er in Baden-Baden wohnte, Mitglied der Synode der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Baden.

Hervorzuheben sind auch seine wissenschaftspolitischen Leistungen, darunter die Neugründung der Justus-Liebig-Universität zu Gießen, der er als Ehrensenator und als Honorarprofessor ihres Fachbereichs Rechtswissenschaft bis zuletzt verbunden blieb, und die Gründung des Deutschen Instituts für Internationale Pädagogische Forschung in Frankfurt am Main, in dem er vier Jahrzehnte als Vorsitzender des Vorstands und Präsident des Stiftungsrates wirkte. Überdies hat Stein in Hessen eine wichtige Rolle als Elder Statesman gespielt. Er war es, der 1978 den heftigen Konflikt um die Hessischen Rahmenrichtlinien durch die von ihm verfasste „Allgemeine Grundlegung der Hessischen Rahmenrichtlinien“ beendete; der damalige hessische Ministerpräsident Holger Börner und der damalige hessische Kultusminister Hans Krollmann hatten ihn als Schlichter auserkoren – in kluger Voraussicht, dass Stein aufgrund seiner fachlichen Kompetenz und wegen des hohen Ansehens, das er über die Grenzen von Parteien und Gruppen hinweg genoss, in der Lage sei, die Diskussion zu versachlichen.

So hat Erwin Stein bleibende Spuren im öffentlichen Leben Hessens und Deutschlands hinterlassen. Am 15. August 1992 ist er im Alter von 89 Jahren gestorben.

Diese Vita wäre unvollständig, wenn man nicht einen Charakterzug Erwin Steins hervorhöbe: Er besaß in ungewöhnlichem Maße Zivilcourage. Die Tugend, ein aufrechter Bürger, ein citoyen zu sein, hat er vorgelebt: in der Weimarer Republik, als Mut dazu gehörte, „Ja“ zu sagen, im „Dritten Reich“, als es großer Tapferkeit bedurfte, „Nein“ zu sagen, und in der Bonner Republik, als es galt, zwischen dem richtigen Ja und dem richtigen Nein zu unterscheiden.

Zivilcourage hat er vor allem in der Nazizeit bewiesen. Er hat sich vom Naziregime nicht verführen, nicht verbiegen, nicht vereinnahmen lassen. Allerdings hat er über diese Jahre später nur ungern geredet. Doch sind die Erfahrungen, die er damals gemacht und durchlitten hat, für alles, was er später dachte und tat, prägend geworden. Was waren das für Erfahrungen?

Erwin Stein war mit einer Jüdin verheiratet, Hedwig Stein geb. Herz. Er war nicht bereit, die Zumutung der Nazis hinzunehmen, sich von ihr scheiden zu lassen. Das war einer der Gründe, weshalb er um die Entlassung aus dem Staatsdienst nachsuchte, in dem er ohnehin keine Zukunft gehabt hätte. Denn § 1a Abs. 3 des damals geltenden Reichsbeamtengesetzes, der berüchtigte Arierparagraph, bestimmte: „Wer nicht arischer Abstammung ist oder mit einer Person nicht arischer Abstammung verheiratet ist, darf nicht als Reichsbeamter berufen werden. Reichsbeamte arischer Abstammung, die mit einer Person nicht arischer Abstammung die Ehe eingehen, sind zu entlassen.“ So musste Stein davon ausgehen, dass er über kurz oder lang ohnehin aus dem öffentlichen Dienst entfernt würde. Da erschien es nur konsequent, dass er sich unter den gegebenen Umständen für den Anwaltsberuf entschied. Leicht hat er es dabei nicht gehabt, wurde er doch wegen seiner jüdischen Frau, zu der er stand, die er nicht seiner Karriere wegen opferte, gemieden. Immerhin halfen ihm Kollegen, indem sie sich von ihm heimlich Schriftsätze oder Gutachten verfassen ließen.

Im März 1943 erhielt Frau Stein von der Gestapo in Offenbach eine Postkarte, mit der sie aufgefordert wurde, sich bei der örtlichen Dienststelle der Gestapo zu melden. Sie ist dieser Aufforderung nicht gefolgt, weil sie wusste, welches Schicksal ihr bestimmt war. Am 23. März 1943 nahm sie sich das Leben.

Vor dem Hintergrund dieses Schicksals versteht man besser, warum sich Erwin Stein nach 1945, nach dem Ende der NS-Zeit, das er wahrlich als Befreiung erlebt hat, so entschieden für den Aufbau eines freiheitlichen Staates engagiert hat. Er war ein leidenschaftlicher Demokrat, aufgeschlossen für die Herausforderungen der Zeit und dabei fest verwurzelt in der abendländischen Tradition des Christentums und der Aufklärung. Toleranz und Humanität waren ihm Wegweiser. Er war in politisch intoleranter Zeit ein tapferer Bürger mit Zivilcourage.